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SIRIUS: Simulationsbasierte Gefährdungsanalyse im urbanen Raum für Einsätze des Kampfmittelräumdienstes

In den Weltkriegen wurden rund 1,3 Millionen Tonnen Bomben über dem Bundesgebiet abgeworfen. Im Jahr 2016 wurden alleine in Nordrhein-Westfalen 238 Blindgänger gefunden. Da sie auch jetzt noch eine erhebliche Gefahr für die Bevölkerung darstellen, wird die Umgebung des Fundortes bei der Entschärfung weiträumig evakuiert. Im Verbundprojekt SIRIUS wird ein Software-Werkzeug zur fundortspezifischen Gefährdungsanalyse für die Entschärfung von Fliegerbomben erarbeitet. Als Grundlage dienen 3D-Stadtmodelle in Kombination mit physikalischen Simulationen für die Ausbreitung der Druckwelle und des Splitterfluges. Die Projektergebnisse werden die Kampfmittelbeseitigungsdienste in die Lage versetzen, in kurzer Zeit und vor Ort den Gefahrbereich um den Fundort eines Blindgängers genau zu bestimmen. Dies kann dazu führen, dass weniger Menschen evakuiert und wichtige Infrastrukturen nicht geschlossen werden müssen.

Mögliche 3D-Visualisierung des Fundortes eines Blindgängers.
© CADFEM Internationale GmbH

Bombenentschärfung: Simulation von Detonationsszenarien in bislang nicht erreichter Genauigkeit und Geschwindigkeit

Während des Zweiten Weltkriegs warfen die Alliierten rund 2,7 Millionen Tonnen Bomben auf den europäischen Kontinent ab, etwa die Hälfte davon allein auf Deutschland. Zwischen 5 und 15 Prozent der Fliegerbomben explodierten jedoch nicht beim Aufprall. Viele sind noch immer scharf und im Untergrund verborgen.

Wenn sich ein Verdachtspunkt erhärtet und es zu einem Fliegerbombenfund kommt, muss diese vom Kampfmittelräumdienst freigelegt, entschärft und geborgen werden. Dabei sind sowohl Menschen als auch die Infrastruktur in der Umgebung des Fundortes einer erheblichen Gefahr ausgesetzt.

In einem solchen Fall werden von der Kampfmittelräumung und dem Krisenstab Maßnahmen wie die Evakuierung der Bevölkerung ergriffen, um vor allem menschliches Leben zu schützen. Großräumige Evakuierungsmaßnahmen sind jedoch mit einem enormen Aufwand verbunden, stellen eine große finanzielle Belastung für Städte und Einrichtungen dar, müssen gut geplant und konsequent umgesetzt werden. Befinden sich im Evakuierungsgebiet Einrichtungen wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime etc., so stellt schon die Evakuierung selbst eine Gefahr dar, da der Transport von Intensivpatienten oder Frühchen für diese lebensbedrohlich sein kann.

Forschung für die zivile Sicherheit

Aus dieser Motivation heraus entstand das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Simulationsbasierte Gefährdungsanalyse im urbanen Raum für Einsätze des Kampfmittelräumdienstes“ (SIRIUS), dass der Kampfmittelräumdienst NRW in Zusammenarbeit mit Virtual City Systems (VCS) und dem Fraunhofer Ernst-Mach-Institut (EMI) durchgeführt und 2019 erfolgreich abgeschlossen hat.
Ziel des Forschungsvorhabens war es, die möglichen Auswirkungen einer explodierenden Fliegerbombe im urbanen Umfeld genauer vorherzusagen und damit die Wirksamkeit von Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen. Um dies zu erreichen, wurde ein bereits bestehender Simulator von den Expertinnen und Experten für Hochgeschwindigkeitsdynamik am Fraunhofer EMI erweitert, angepasst und in die eine 3D-Stadtmodellanwendung von VCS integriert. Die daraus entstandene Anwendung „VC Blastprotect“ ist die erste Software, die, basierend auf physikalischen Methoden, die Druckwellenausbreitung und den Splitterflug einer solchen Detonation im realen Stadtkontext simuliert und mögliche Gefährdungen vorhersagt.

Mit VC Blastprotect können Benutzerinnen und Benutzer die genaue Auffindungssituation von Fliegerbomben im Kontext des 3D-Stadt- und Geländemodells definieren: um welchen Typ es sich handelt, wie groß sie ist, wie tief unter der Erde sie liegt, wie die vertikale oder horizontale Ausrichtung ist und wie die Bergung geplant ist. Innerhalb weniger als einer Stunde wird dann die Druckwellenausbreitung und der Splitterflug simuliert und Gefahrenbereiche ermittelt, die im 3D-Stadtmodell visualisiert werden. Auf dieser Basis können zuständige Behörden und Sicherheitskräfte gezielte Schutzmaßnahmen planen.
Mit der Software ist es erstmals möglich, den potenziellen Nutzen verschiedener Sicherheits- und Schutzmaßnahmen zu analysieren, zu vergleichen und eine möglichst optimale Lösung unter Berücksichtigung aller Randbedingungen zu finden. Beispielsweise können temporäre Objekte wie Schutzwände aus Containern in das 3D-Stadtmodell integriert werden. Die Software wurde dabei so konzipiert, dass sie besonders einfach in der Handhabung ist und auch von Anwenderinnen und Anwendern genutzt werden kann, die keine Erfahrung mit Simulationssystemen haben.

Ein besonderer Einsatz: Bombenentschärfung im Dortmunder Krankenhausbezirk

Darstellung der Verdachtspunkte im 3D-Stadtmodell von Dortmund. Die betroffenen Krankenhauseinrichtungen im direkten Umfeld sind rot hervorgehoben.
Darstellung der Verdachtspunkte im 3D-Stadtmodell von Dortmund. Die betroffenen Krankenhauseinrichtungen im direkten Umfeld sind rot hervorgehoben. © Virtual City Systems GmbH / Stefan Trometer

Der Prototyp von VC Blastprotect wurde Anfang 2020 auf die Probe gestellt, als bei Bauarbeiten in der Dortmunder Innenstadt drei Verdachtspunkte mit eventuell nicht detonierten Fliegerbomben im dortigen Krankenhausbezirk entdeckt wurden. Auf Grundlage dieses Befunds plante der Krisenstab der Stadt Dortmund, unterstützt von der Kampfmittelräumung und Expertinnen und Experten des Ingenieurbüros Döring, mit Hochdruck eine der größten Evakuierungsmaßnahmen in der Nachkriegszeit für mindestens 13.000 betroffene Einwohnerinnen und Einwohner sowie mehrere Krankenhäuser. Speziell für die Bedrohung der Krankenhäuser wurden auf Grundlage der Simulationsergebnisse von VC Blastprotect sichere Bereiche innerhalb der Gebäude identifiziert, in die gefährdete Patienten verlegt werden konnten, ohne dass sie evakuiert werden mussten.

Beim Überprüfen der Verdachtspunkte wurden an zwei Standorten tatsächlich Fliegerbomben mit einem Gewicht von jeweils rund 250 Kilogramm gefunden und fachgerecht von der Kampfmittelräumung entschärft und geborgen.
„Dank der detaillierten 3D-Simulation gelang es, die Gefahren aus den mutmaßlichen Bombenverdachtsfällen genauer und differenzierter vorherzusagen“, erklärte Stadtrat und Leiter des Krisenmanagements Arnulf Rybicki. „Dies hat vor allem in den betroffenen Krankenhäusern geholfen, die Evakuierungs- und Schutzmaßnahmen auf ein vertretbares Minimum zu begrenzen. So konnte auf eine Evakuierung von Intensivpatienten und Frühchen gänzlich verzichtet werden.” Insgesamt durften 600 Patienten und Betreuer in den sicheren Flügeln der Krankenhäuser verbleiben, die nach den bisherigen Verfahren evakuiert worden wären.

Bislang war mangels genauerer Methoden stets von einer kreisförmigen Ausbreitung der Explosionswirkung ausgegangen worden, so dass die gängige Praxis darin besteht, in einem Radius von beispielsweise 500 Metern um den Fundort herum eine Evakuierung vorzunehmen. Ortsspezifische Einflüsse aus der Auffindesituation der Bomben, der Abschottung durch Gebäude oder durch temporäre Abschirmmaßnahmen konnten dabei bislang genauso wenig quantifiziert werden, wie die Gefährdung von kritischen Infrastrukturobjekten wie Krankenhäusern. Mit VC Blastprotect ist dies nun möglich und wird in Zukunft zu einem höheren Sicherheitsniveau führen, zu fundierteren Entscheidungen bei der Planung von Entschärfungen und – wie der Einsatz in Dortmund zeigt – insbesondere auch zur Verminderung des Risikos für gefährdete Personengruppen.

Bislang wird VC Blastprotect von den Kampfmittelräumdiensten NRW, Brandenburg und Berlin in Lizenz genutzt. Hinzu kommen zahlreiche weitere Projekte, u. a. in Wien, Berlin, Soest und Rheine.

Autor: Dr. Stefan Trometer, Virtual City Systems GmbH

Weitere Informationen auf der Webseite zum Forschungsprojekt SIRIUS auf www.vc.systems

Weitere Informationen zum Verbundprojekt

Förderkennzeichen:  13N14640 bis 13N14642

Projektumriss SIRIUS